Säugetiere – Merkmale, Systematik, Skelett & Gebiss (Vorlesung 1)

Einleitung & Organisatorisches

  • Begrüßung durch Dozent Georges In Canassau.
  • Erste Vorlesung des Säugetier-Teils im Modul.
  • Fokus heute: die ersten sechs zentralen Merkmale der Säugetiere.
    • Vier Extremitäten
    • Sekundäres Kiefergelenk
    • Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss, Steigbügel)
    • Geschlossenes doppeltes Kreislaufsystem
    • Zwerchfell
    • Fell
  • Weitere erwähnte, aber nicht vertiefte Merkmale:
    • Milchdrüsen (namensgebend für Mammalia)
    • Gleichwarme Körpertemperatur (Homoiothermie)
    • Lebendgeburt (Vivarparie)

Systematik der Säugetiere

  • Drei Unterklassen mit je eigener Ordnung(en):
    • Prototheria (Eierlegende)
    • Ordnung Monotremata (Schnabeltier, Ameisenigel)
    • Metatheria (Beuteltiere)
    • Ordnung Marsupialia (Kängurus, Opossums u. a.)
    • Eutheria / Placentalia (Höhere Säuger)
    • 18 Ordnungen (u. a. Primaten, Nagetiere, Wale, Fledermäuse)
  • Stammesgeschichte (phylogenetische Trennung):
    • Prototheria vs. übrige Säuger: vor 166\,\text{Mio. J.}
    • Metatheria vs. Eutheria: vor 148\,\text{Mio. J.}
    • Hinweis: Säuger damit „jüngere“ Tetrapoden-Klasse im Vergleich zu Reptilien/Vögeln.

Größen- und Formenvielfalt

  • Kleinste Vertreter
    • Hummelfledermaus (Craseonycteris thonglongyai) oder Etrusker-Spitzmaus
    • Körpermasse: 1{,}5\,\text{g}=0{,}0015\,\text{kg}
  • Größter Vertreter
    • Blauwal (Balaenoptera musculus) ≈ 130\,\text{t}
  • Relevanz: enorme morphologische Diversität erfordert Vergleich des „klassischen“ Säugetierskeletts mit Modifikationen.

Klassisches Säugetierskelett (Referenz: Hauskatze)

  • Axialskelett
    • Schädel mit Ober- und Unterkiefer
    • Wirbelsäule: 7 Hals-, 13 Brust-, Lenden- (i.d.R. 6), Kreuz- und Schwanzwirbel (Anzahl artspezifisch)
    • Brustkorb: Brustwirbel + Rippen + Brustbein ➜ schützt Herz/Lunge
  • Schultergürtel
    • Schulterblatt (Scapula), Schlüsselbein (Clavicula); optional Rabenschnabelfortsatz
  • Beckengürtel
    • Darmbein (Ileum), Schambein (Pubis), Sitzbein (Ischium)
  • Vordere Gliedmaßen
    • Humerus → Ulna & Radius → Carpus → Metacarpus → Phalangen (meist 5 Zehen)
  • Hintere Gliedmaßen
    • Femur → Patella → Tibia & Fibula → Tarsus → Metatarsus → Phalangen (meist 5 Zehen)
  • Praktikumshinweis: Studierende erhalten unsortierte Knochen eines Kleinsäugers und müssen sie taxonomisch zuordnen.

Vergleichende Extremitätenmorphologie

  • Gemeinsames Grundmuster (Homologie aller Tetrapoden-Segmente):
    • Stylopodium: Humerus/Femur
    • Zeugopodium: Radius + Ulna / Tibia + Fibula
    • Basipodium: Carpus / Tarsus
    • Metapodium: Metacarpus / Metatarsus
    • Akropodium: Finger/Zehen
  • Modifikations­beispiele
    • Mensch: Funktionsfähige 5-Strahlen-Hand/Fuß
    • Elefant: Säulenartige Beine, verkürzte Elemente, Sesambeine
    • Pferd: Reduktion auf einen Mittelstrahl (Monodactylie)
    • Fledermaus: extreme Verlängerung von Metacarpalia + Phalangen ➜ Tragfläche
    • Wal: Verkürzte Röhrenknochen, gesteigerte Zahl kurzer Phalangen ➜ Flosse

Sekundäres Kiefergelenk & Evolution der Gehörknöchelchen

  • Ursprüngliches (primäres) Kiefergelenk bei Fischen/Reptilien: Quadratum ↔ Articulare (+ Hyomandibulare)
  • Übergang Reptil → Säuger:
    • Quadratum & Articulare werden zu Amboss (Incus) bzw. Hammer (Malleus)
    • Hyomandibulare → Steigbügel (Stapes)
  • Neues (sekundäres) Gelenk zwischen Dentale (Unterkiefer) und Squamosum (Schläfenbein) ➜ höhere Bisskraft + Hören an Land.

Zahnaufbau (Allgemeinanatomie)

  • Schichten & Strukturen
    • Dentin (Zahnbein) – Hauptmasse, weniger hart als Schmelz
    • Zahnschmelz (Enamel) – härteste Substanz, bedeckt Krone
    • Wurzelzement – verankert Zahn in Alveole
    • Pulpa (Zahnmark) – Blutgefäße & Nerven
    • Periodontale Haltebänder – Fixierung im Kiefer
  • Abnutzung & Selbstschärfung
    • Rodentia: kontinuierlich wachsendes Dentin + Schmelz vorn ➜ selbstschärfende Schneidezähne
    • Nagetier-Technik: Zahn-auf-Zahn-Reibung bzw. Benagen von Holz
    • Vampirfledermäuse: Zungenschmirgel mit Hornplättchen schärft Incisivi & Canini

Gebissformel & Zahngruppen

  • Säugetiere i.d.R. heterodont und bilateral symmetrisch (Ausnahme: Narwal)
  • Reihung pro Quadrant (Ober-/Unterkiefer):
    • Incisivi (I) – Schneide-, Stoß-, Nagezähne
    • Canini (C) – Eck-, Fang-, Hauerzähne
    • Prämolaren (P) – vordere Backenzähne
    • Molaren (M) – hintere Backenzähne
  • Schreibweise: z. B. Mensch \tfrac{I2\;C1\;P2\;M3}{I2\;C1\;P2\;M3} \times 2 = 32 Zähne

Funktionelle Gebisstypen & Ernährungsanpassungen

  • Piscivor (Fischfresser) – z. B. Delfin
    • Sekundär homodontes Gebiss, oft >44 Zähne, alle spitz → Greifen + Festhalten
  • Insektivor (Insektenfresser) – z. B. Bartfledermaus
    • Höchstzahl an Zähnen, spitz-höckerige P/M ➜ Aufknacken von Chitinpanzern
  • Karnivor (Fleischfresser) – z. B. Hund/Katze
    • Kleine Incisivi, riesige Canini
    • Carnassialzahn-Paar (P4 ober + M1 unter) bildet Schermechanismus
  • Herbivor – Grasfresser (Grazers) – z. B. Giraffe, Rind
    • Reduktion/Verlust der vorderen Zähne (v. a. Oberkiefer)
    • Dauerwachsende Molaren, Schmelzleisten & Lamellenzähne gegen Silikatabrieb
  • Herbivor – Blatt- & Fruchtfresser (Browser)
    • Weniger extreme Abnutzung; oft „Standardgebiss“ mit bunodonten (höckrigen) Molaren
  • Myrmecophag (Ameisen/Termiten) – z. B. Ameisenbär, Erdferkel
    • Zähne stark reduziert oder Verlust ➜ lange, klebrige Zunge
  • Nektar- & Pollenspezialisten – z. B. Honigfledermäuse
    • Ebenfalls Zahnrudimente, Fokus auf Zungenanpassung
  • Omnivor – z. B. Wildschwein, Mensch
    • Unspezialisierte, bunodonte Molaren, moderate Canini; Wildschwein: Eckzähne→Hauer

Besondere Zahnmorphologien

  • Stoßzähne Elefant – Incisivi, rein aus Dentin
  • Narwal – linker Oberkiefer-Incisiv als spiralig gedrehter Stoßzahn, rechter meist verkümmert
  • Walross – verlängerte Canini als Stoßzähne
  • Hauer Wildschwein – Eckzähne beider Kiefer wachsen kontinuierlich, schleifen sich gegenseitig
  • Reißzähne (Carnassialpaar) – spezialisierte P4/M1 bei Feliden/Caniden zum Knochenbrechen
  • Milchzähne mit Widerhaken (Fledermaus-Jungtiere)
    • Kombination mit starken Daumen-/Fußkrallen
    • Funktion: Festklammern am Bauch der Mutter während des Fluges (Quartierwechsel)

Zahnwechsel (Diphyodontie)

  • Säugetiere besitzen zwei Generationen: Milch- und Dauergebiss.
  • Normal: vertikaler Ersatz von unten.
  • Sonderfälle: horizontaler Zahnwander-Ersatz bei Elefanten & Seekühen (Molaren schieben von hinten nach vorn).

Geschlossenes doppeltes Kreislaufsystem

  • Herz → Lungenkreislauf → Herz → Körperkreislauf → Herz.
  • Vollständige Trennung von sauerstoffarmem und sauerstoffreichem Blut ➜ effiziente Endothermie.

Zwerchfell

  • Muskel-Sehnen-Platte zwischen Thorax & Abdomen.
  • Ermöglicht Unterdruckatmung ➜ höhere Atemeffizienz als bei Reptilien.

Fell (Pelz)

  • Einzigartiges Mammalia-Merkmal (keine Konvergenz außerhalb).
  • Funktionen: Thermoregulation, Tarnung, Kommunikation, sensorische Vibrissen.

Verbindungen zu Vorwissen / Praxisrelevanz

  • Vergleichende Anatomie zeigt Evolution von Land- zu Wasser- und Luft-Lebensweisen.
  • Pathologie-Bezug: Fehlbildungen des sekundären Kiefergelenks ↔ kausale Hörstörungen.
  • Naturschutz-Kontext: Größenspektrum (Hummelfledermaus ↔ Blauwal) illustriert Biodiversitätsverlust-Risiken.
  • Kurstreffer: Fähigkeit, Knochen & Zähne als Diagnoseschlüssel zu nutzen (z. B. Nager vs. Insektenfresser).